Vermächtnis mit Verantwortung

Oberhausen feiert 60 Jahre Gedenkhalle mit Bundestagspräsidentin Bärbel Bas

Oberbürgermeister Daniel Schranz begrüßt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas
Oberbürgermeister Daniel Schranz begrüßte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, die zum Festakt zum 60-jährigen Bestehen der Gedenkhalle nach Oberhausen gekommen war. (Foto: Stadt Oberhausen/Tom Thöne)

05.09.2022 - Sie ist die älteste Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus im westdeutschen Raum: Früher als alle anderen Städte der jungen Bundesrepublik richtete Oberhausen 1962 mit der Gedenkhalle am Schloss Oberhausen einen Raum für die Erinnerung ein – und damit gegen das Vergessen der Gräuel der nationalsozialistischen Herrschaft. Genau 60 Jahre später, am 2. September, begrüßte Oberbürgermeister Daniel Schranz Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zu einem Festakt, mit dem die Geschichte, vor allem aber die Bildungsarbeit der Gedenkhalle gewürdigt wurde.

„Auch wenn Demokratie und Toleranz in Oberhausen sehr breiter gesellschaftlicher Konsens sind, nehmen wir natürlich auch hier wahr, wie populistische und radikale Kräfte versuchen, einen Spalt in diese Einigkeit zu treiben, Unterschiede in Ansichten zu gesellschaftlichen Verwerfungen zu vergrößern“, sagte der Oberbürgermeister in seiner Rede: „Sich solchen Bestrebungen entgegenzustellen, ist und bleibt unsere Aufgabe, und es ist eine der originären Aufgaben der Gedenkhalle, der sie seit 60 Jahren nachkommt.“

Die früh begonnene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die die Kommunalpolitik in den späten 1950er-Jahren angestoßen hatte, sei ein Vermächtnis, das Verantwortung mit sich bringe, betonte Schranz: „Wir haben die Pflicht, dieses Erbe weiter mit Leben zu erfüllen.“ Nur so hätten auch die Kinder und Jugendlichen, deren Großeltern erst nach dem Krieg geboren wurden, eine Chance zu erfahren, „wie verabscheuungswürdig die Ideologie und die Verbrechen der Nationalsozialisten waren – aber auch, mit welchen Methoden der Menschfang damals funktioniert und auch heute noch funktionieren kann“. Schranz dankte Gedenkhallen-Leiter Clemens Heinrichs und seinem Team, aber auch den vielen anderen in Oberhausen aktiven Gruppen für die geleistete Bildungsarbeit.

Oberbürgermeister Daniel Schranz
Oberbürgermeister Daniel Schranz sprach in seiner Rede zum 60-jährigen Bestehen der Gedenkhalle von einem Vermächtnis, das Verantwortung mit sich bringe. (Foto: Stadt Oberhausen/Tom Thöne)

Auch Bärbel Bas, als Bundestagspräsidentin die zweithöchste Repräsentantin Deutschlands, lobte in ihrer Rede die Arbeit der Gedenkhalle und betonte ihre herausgehobene Stellung durch die frühe Gründung: ihre Gedenk- und Erinnerungskultur werde von zahlreichen Akteuren und Initiativen auf allen Ebenen getragen. Sie sei mittlerweile, und das gelte ganz besonders für Oberhausen, fest in der Gesellschaft verankert.

Bas betonte, dass die Bedeutung solcher Gedenkstätten nicht abnehme: „Ich bin überzeugt: Wir brauchen das Wissen um die Vergangenheit umso mehr, je weiter wir uns von den Ereignissen entfernen. Je mehr Zeit vergeht, desto leichter könnte der falsche Eindruck entstehen: Das Vergangene ist doch endgültig kann sich nicht mehr wiederholen. Das ist ein gefährlicher Trugschluss. Unsere Demokratie ist gefestigt und stabil. Sie bewährt sich seit Jahrzehnten, auch in schwierigen Konfliktsituationen. Aber sie steht unter Druck. Von außen wie von innen.“

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas war nach Oberhausen gekommen, um das 60-jährige Bestehen der Gedenkhalle zu feiern. Es ist die älteste Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus im Westen Deutschlands. (Foto: Stadt Oberhausen/Tom Thöne)

Der Historiker Alfons Kenkmann, Professor für Didaktik der Geschichte an der Universität Leipzig und langjähriger Vorsitzender des Arbeitskreises der NS-Gedenkstätten und Erinnerungsorte Nordrhein-Westfalen, ordnete den Festakt-Gästen die Gründungsgeschichte der Gedenkhalle Oberhausen ein – nicht ohne zuerst den Blick auf drei Biografien von Oberhausenerinnen und Oberhausenern zu lenken: Eduard Chervatin, aktiv in der Osterfelder KPD, leistete politischen Widerstand gegen die Herrschaft der Nationalsozialisten in Oberhausen, wurde inhaftiert und musste Zwangsarbeit leisten. Der 19-jährige Liricher Josef van Hüth verweigerte sich der Hitlerjugend, schloss sich den „Edelweißpiraten“ an und galt als „Rädelsführer“ einer Gruppe junger Menschen, die wegen „bündischer Betätigung“ angeklagt wurden. Er meldete sich zur Kriegsmarine, möglicherweise, um eine Haftstrafe zu vermeiden – dann verliert sich seine Spur. Und der kleinen Annemarie, die 1940 in die Alt-Oberhausener Familie Stevens geboren wurde, konstruierte ein Arzt einen „hochgradigen geistigen Defektzustand“: Das Kleinkind wurde am 12. Dezember 1943 ermordet.

„Die Sensibilisierung für die Opfer- und Verfolgtengeschichten auf lokaler Ebene,“ so Historiker Kenkmann, „für die Verfolgung des politischen Gegners, die rechtliche Ausgrenzung, wirtschaftliche Ausbeutung und letztendlich physische Vernichtung der Juden und auch Sinti und Roma, aber auch für die Ermordung Behinderter sowie die Auspressung der Arbeitskraft vor allem osteuropäischer Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen; das Gespür für die Notwendigkeit eines symbolischen Ortes, an dem die Stadtgesellschaft sich ihrer Vergangenheit und Geschichte orientierend vergewissern kann – all das zeichnete die Stadtgesellschaft Oberhausens in den 1960er Jahren aus.“

 Bundestagspräsidentin Bas und Oberbürgermeister Schranz enthüllten neben der Figur der „Trauernden“ an der Gedenkhalle vier Tafeln
Insgesamt vier Tafeln mit Erklärungen zur sich wandelnden Wahrnehmung der Figur der „Trauernden“ enthüllten Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und Oberbürgermeister Daniel Schranz an der Gedenkhalle. (Foto: Stadt Oberhausen/Tom Thöne)

Das zeichnet sie aber auch 60 Jahre später noch aus – genauso die Reflektion der eigenen Arbeit. Dass die Gedenkhalle laufend auf den Wandel von Vorstellungen, Perspektiven und Wahrnehmungen reagiert, machte der zweite Teil des Festaktes deutlich: Bundestagspräsidentin Bas und Oberbürgermeister Schranz enthüllten neben der Figur der „Trauernden“ an der Gedenkhalle vier Tafeln, die die veränderte Rezeption dieses Werks des auch im Nationalsozialismus erfolgreichen Bildhauers Willy Meller thematisieren.

Die Skulptur war mit Eröffnung der Gedenkhalle am 2. September 1962 der Öffentlichkeit übergeben worden. Doch „in den 60 Jahren ihres Bestehens hat sich die Wahrnehmung der Trauernden geändert“, erklärte Gedenkhallen-Leiter Heinrichs: „Das ist keine einhellige Erscheinung, sondern eine im Widerspruch. Die einen halten die Trauernde nach wie vor für eine positive Erscheinung, die anderen äußern Kritik an ihr, die nicht von der Hand zu weisen ist.“ Dabei gehe es neben der Biografie des Künstlers, um die Ikonografie, aber auch um die Inschriftentafel vor der Figur. 

Als dritter Akt der Feierlichkeiten wurde die Wanderausstellung „#StolenMemory“ der Arolsen Archives eröffnet: Mitten im Schlosshof steht ein leuchtend blauer Übersee-Container, dessen Seiten aufgeklappt werden und das Metall-Konstrukt zu einem Freiluft-Ausstellungsraum machen. Das internationale Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus erzählt anhand von Fotos sogenannter Effekten, persönlicher Gegenstände, die KZ-Häftlingen abgenommen wurden, die Lebens- und Verfolgungsgeschichten dieser Personen. Zu sehen sind einerseits Bilder von Gegenständen wie Schmuck, Briefen oder Fotos, die den Nachfahren der Verfolgten übergeben werden konnten, aber auch solche, bei denen die Nachkommen der rechtmäßigen Besitzerinnen und Besitzer noch gesucht werden. Die Ausstellung ist bis 21. September im Innenhof des Schlosses an der Konrad-Adenauer-Allee zu sehen.